Übersetzungen Arbeitsbuch Alt- und Mittelhochdeutsch

(Nikolaus Ruge, 5/2020)

Hinweis: Die Übersetzungen verfolgen nicht in erster Linie die Absicht, die ausgangsprachigen Texte inhaltlich zu erschließen oder gar einen auch stilistisch mit dem ausgangsprachigen Text äquivalenten zielsprachigen Text zu erstellen, sondern sind vor allem als Hilfe zum sprachstrukturellem Nachvollzug der alt- und mittelhochdeutschen Quellen gedacht. Das gilt besonders auch für die althochdeutschen Teiltexte lateinisch-althochdeutscher Bilinguen (Tatian), die weder funktional noch systemsprachlich eigenständig sind, was eine ‘Übersetzung’ im strengen Sinn eigentlich ausschließt. Bei mehrdeutigen Textpassagen wurde jeweils eine Übersetzungsoption ausgewählt.

7.1.1 Tatian 34,6 (AB 186)

Da sagte er ihnen: “Wenn ihr betet, dann sprecht so: Vater unser, der du im Himmel bist, geheiligt sei dein Name, dein Reich komme, dein Wille sei genauso, wenn er im Himmel ist, wie wenn er auf der Erde ist, unser tägliches Brot gib uns heute, und erlasse uns unsere Schulden, wie auch wir sie unseren Schuldigern erlassen, und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns vom Bösen.

7.1.2 Tatian 87,1-5 (AB 186-188)

  1. Es ergab sich, dass er durch Samaria reiste. Und da kam er in eine Stadt in Samaria, die Sychar genannt wird, nahe einem Besitztum, das Jakob seinem Sohn Joseph gegeben hatte. Da war der Brunnen Jakobs. Der Heiland war von der Reise ermüdet und saß über dem Brunnen; da war es nahe der Sexta.
  2. Da kam eine Frau aus Samaria zum Wasserschöpfen. Da sagte ihr der Heiland: “Gib mir zu trinken.” Seine Jünger gingen in die Stadt, um Essen zu kaufen. Da sagte ihm die samaritanische Frau: “Wie erbittest du, obwohl du jüdisch bist, etwas zu trinken von mir, obwohl ich eine samaritanische Frau bin? Juden verkehren nicht mit Samaritanern.”
  3. Da antwortete der Heiland und sagte ihr: “Wenn du Gottes Geschenk kennen würdest und wüsstest, wer es ist, der dir sagt: Gib mir zu trinken, würdest du vielleicht von ihm erbitten, dass er dir das Wasser des Lebens gibt.” Da sagte ihm die Frau: “Du hast nichts dabei, womit du schöpfen könntest, und der Brunnen ist tief: Woher hast du das Wasser des Lebens? Bist du denn größer als unser Vater Jakob, der uns den Brunnen gab? Er trank von ihm, und seine Söhne und sein Vieh.”
  4. Da antwortete der Heiland und sagte ihr: “Einen jeden, der von diesem Wasser trinkt, den dürstet wieder; wer von dem Wasser trinkt, das ich gebe, den dürstet nicht bis in alle Ewigkeit, das Wasser, das ich ihm gebe, ist vielmehr in ihm der Brunnen des Wassers, der zum ewigen Leben hin sprudelt.
  5. Da sagte die Frau zu ihm: “Herr, gib mir das Wasser, damit es mich nicht dürstet und damit ich nicht mehr zum Schöpfen herkommen brauche.” Da sagte ihr der Heiland: “Mach dich auf, hol deinen Ehemann und komm her.” Die Frau antwortete und sagte: “Ich habe keinen Ehemann.” Da sagte ihr der Heiland: “Du hast dich richtig ausgedrückt, dass du keinen Ehemann hast: Du hattest fünf Ehemänner, und der, den du nun hast, ist nicht dein Ehemann: Das sagst du wahrheitsgemäß.” Da sagte ihm die Frau: “Herr, ich sehe, dass du ein Weissager bist. Unsere Väter beteten auf diesem Berg, und ihr habt gesprochen, weil in Jerusalem der Ort ist, wo es sich zu beten geziemt.”

7.1.3 Otfrid von Weißenburg, Evangelienbuch IV, 32,1-33,16 (AB 188f.)

32,1-12

Seine Mutter, die gute, sah all dies leidvollen Herzens mit an, diese Qualen wühlten ihre Brüste auf, aber für uns wendeten sich die Dinge dadurch zum Guten; weder konnte es sich in jemand anderem ereignen, noch berührte sie der Schmerz. Einer seiner Jünger stand dort in reiner Keuschheit; er kam auch dazu und sah die Betrübnis.

Wegen seiner Tugend, die in dieser Bedrängnis wieder offenbar wurde,
empfahl ihm [dem Jünger] der gute Sohn seine Mutter,
damit er sie zu sich nehme und sie nicht ohne Schutz sein würde.
Er sorgte sich um die Mutter, während er am Kreuz hing,
auch wir folgen seinem Gebot, indem wir an unsere Mutter denken.

33,1-16

Die Sonne geriet über solche Begebenheiten rasch in Zorn,
sie ließ die Menschen der Welt ihr herrliches Licht nicht sehen;
bald erschraken sie über die erbärmliche Tat.
Sie wollte da in ihren Schmerzen nicht darauf schauen.
Sie verwehrte ihnen ihr schönes Gesicht,
Sie ließ ihnen ihr helles Antlitz deshalb nicht erscheinen.
Den Schein, von dem ich gerade berichtet habe, über den sich die Welt freute,
verweigerte sie ihnen genau drei Tage;
Wahrlich, von der Sexta bis zur Nona,
das sollte doch wahrhaftig die hellste Zeit des Tages sein:
Ihr glänzendes Licht entzog sie ihnen vollständig,
sie verwandelte es ihnen gänzlich in schreckliche Finsternis.
Denn sie sah ihren Herrn gefangen und ans Kreuz geschlagen,
den, der sie geschaffen hatte, und geriet darüber in heftige Furcht.
Er rief sehr laut, als die Zeit der Nona gekommen war,
seine Stimme flehte um die Zuneigung seines Vaters.

7.1.4 Ludwigslied (AB 189-191)

Volkssprachiger Gesang zur frommen Erinnerung an König Ludwig, Sohn Ludwigs, gleichermaßen König

1-6

Ich kenne einen König, er heißt Ludwig, der Gott mit Freude dient: Ich weiß, dass er ihn dafür belohnen wird. Als Kind wurde er vaterlos. Dafür erhielt er aber Ersatz: Der Herr nahm sich seiner an, er wurde sein Erzieher. Er gab ihm Tugend, ein herrengemäßes Gefolge, einen Thron hier in Franken. Davon möge er lange etwas haben!

7-12

Das, die zahlreichen Ländereien, teilte er sich mit seinem Bruder Karlmann. Als das alles vollbracht war, wollte Gott ihn auf der Probe stellen, ob er, so jung wie er war, Leid aushalten könne. Er ließ heidnische Männer über das Meer führen, um das Volk der Franken an seine Sünden zu erinnern.

13-18

Einige, die schon verloren gewesen waren, wurden zu Auserwählten. Schmerzliche Strafen erduldete, wer vorher schlecht gelebt hatte. Der, der seinerzeit Dieb gewesen war und sich dann gebessert hatte, begann mit dem Fasten: Später wurde er ein guter Mensch. Mancher war ein Lügner, ein anderer Räuber, wieder ein anderer voller Verworfenheit, und alle taten dafür Buße.

19-26

Der König war weit entfernt, das Reich in Wirren, Christus war erzürnt: Ach, dafür bezahlte es. Doch das erbarmte Gott, er wusste um das ganze Unheil: Er befahl Ludwig, sofort dorthin zu reiten. “Ludwig, mein König, hilf meinen Leuten! Die Normannen haben sie heftig bedrängt.” Darauf sagte Ludwig: “Herr, ich tue alles, worum du mich bittest, außer der Tod hindert mich daran.”

27-38

Da verabschiedete er sich von Gott, er hob die Kriegsfahne auf und ritt ins Frankenreich, den Normannen entgegen. Gott dankten die, die auf ihn warteten, alle sagten: “Mein Herr, so lange warten wir schon auf dich.” Darauf sagte der gute Ludwig laut: “Tröstet euch, Freunde, meine Kampfgefährten. Gott hat mich hergeschickt und mir selbst den Befehl erteilt, wenn es euch ratsam erscheint, dass ich hier kämpfe und mich selbst nicht schone, bis ich euch gerettet habe. Nun will ich, dass mir alle Gottestreuen folgen. Die irdische Existenz ist begrenzt, so lange es Gott will: Will er unseren Tod, hat er darüber die Macht.

39-45

Wer hier in der Fremde Gottes Willen tut, wenn der gesund bleibt, belohne ich ihn dafür, wenn er auf dem Schlachtfeld bleibt, seine Verwandten.” Da nahm er Schild und Speer. Mutig ritt er los: Er wollte erfahren, wer seine Widersacher waren. Da dauerte es nicht sehr lange, und er traf auf die Normannen: Er lobte Gott, er sah, was er begehrt hatte.

46-51

Der König ritt mutig, er sang ein heiliges Lied, und alle sangen zusammen: “Kyrieeleison”. Der Gesang verstummte, der Kampf begann, Blut glänzte auf den Wangen: So kämpften die Franken. Da kämpfte jeder Krieger auf die gleiche Art, keiner so wie Ludwig: Gewandt und tapfer, das entsprach seiner Herkunft.

52-58

Einen durchschlug er, einen anderen durchstach er. Er schenkte seinen Feinden sogleich bitteres Leid. Wehe für immer um ihr Leben! Gelobt sei Gottes Macht: Ludwig trug den Sieg davon. Und Dank allen Heiligen! Er kämpfte den Siegeskampf. Und noch ein Hoch auf Ludwig, unseren gesegneten König! Er war stets kampfbereit, wo man ihn brauchte. Der Herr erhalte ihn, bei seiner Gnade.

7.1.5 Psalm 138 (AB 191f.)

1-4

Wollt ihr den guten König David hören, seine verborgene Bedeutung? Er grüßte seinen Herrn: “Wahrhaftig, du hast mich geprüft, Herr, und weißt, wer ich bin von Anfang an und bis zum Ende.

5-8

Ich kann mich in Gedanken nicht vor dir abwenden: Du kennst alle Wege, wohin ich mich auch wende. Wohin ich auch meine Zügel lenkte, du hast es sofort wahrgenommen: Den Weg hast du mir versperrt, so dass ich wieder zu dir zurückkehrte.

9-15

Du hast mir die Zunge so fest im Griff, dass ich ohne deinen Befehl kein Wort mehr spreche. Wie groß ist dein Wissen, Christus, das du über mich besitzt! Wie könnte ich dir entrinnen? Wenn ich zum Himmel auffahre, bist du dort mit deinem Heer. Führt mein Weg zur Hölle, bist du dort gegenwärtig: Ich kann nirgendwo hin, wo mich nicht deine Hand hält.

16-21

Nun will ich alle Mörder von mir entfernen, alle, die mir zu unrechter Herrschaft rieten, die sind deine Feinde, mit denen will ich verfeindet sein. Die, die gegen dich handeln wollen, die will ich zutiefst hassen, will sie alle zu deinem Ruhm zu meinen Feinden machen.

22-26

Du Gott, mit deiner Macht, schütze mich auf jeder Seite, mit deiner Kraft nimm ihm den Speer, lass du ihm nicht die Gelegenheit, dass er damit auf mich schießt. Die Seele hast du mir geschaffen, die hast du in deine Obhut genommen. Du hast mich gleich bemerkt, als mich die Mutter geboren hat.

27-30

Ich leugne auch nicht im Mindesten, was du heimlich vollbracht hast, so dass ich nach der Geburt nicht wieder zu Erde wurde. Wenn ich in die Finsternis reise, dann hältst du mich gleich: Ich weiß, dass deine Nacht so hell sein kann wie der Tag.

31-35

So will ich denn ganz früh meine Federn aufstellen: Beginne ich wegzufliegen wie es vorher noch niemand tat, dann fliege ich ans Ende des Meeres: Ich weiß, dass du mich dort einholst; ich kann in kein Land, wenn mich deine Hand nicht hält.

36-38

Nun prüfe mich genau, ob ich mich zu dir hinwende: Du gnädiger Gott, bekehre mich weiterhin, mit deinen Gnaden behalte mich in Ewigkeit.”

7.2.1 Nibelungenlied 975-992 (AB 192-194)

975

Da sagte der der mutige Krieger: „Ich will euch noch mehr sagen: Meine ganze Ausrüstung will ich bei mir tragen, den Speer, dann noch den Schild und mein ganzes Jagdkleid.“ Den Köcher und das Schwert hatte er rasch umgebunden.

976

Da zogen sie sich die Kleider vom Leib. Man sah beide in zwei weißen Hemden dastehen Wie zwei wilde Panther liefen sie durch den Klee. Dann sah man den tapferen Siegfried als ersten an der Quelle.

977

Er war vor vielen anderen Männern in vieler Hinsicht ausgezeichnet. Das Schwert löste er schnell, den Köcher legte er beiseite, den soliden Speer lehnte er an einen Ast der Linde. Bei der sprudelnden Quelle stand der ausgezeichnete Fremde.

978

Die Tugenden Siegfrieds waren sehr groß. Den Schild legte er zu Boden, wo die Quelle sprudelte. Auch wenn es ihn sehr dürstete, so trank der Held dennoch nicht, bevor der König getrunken hatte; dafür sagte der ihm verächtlichen Dank.

979

Die Quelle war kühl, rein und gut. Gunther neigte sich zum fließenden Wasser hinab. Als er getrunken hatte, entfernte er sich. So hätte es gerne auch der mutige Siegfried getan.

980

Da bezahlte er für seine gute Erziehung. Den Bogen und das Schwert trug Hagen von ihm weg. Dann stürzte er dorthin, wo er den Speer wusste. Er suchte auf der Kleidung des Mutigen nach einem Zeichen.

981

Als Herr Siegfried aus der Quelle trank, schoss er [Hagen] ihm durch das Kreuz, so dass ihm durch die Verwundung das Blut aus dem Herzen heftig auf Hagens Kleidung spritzte. Eine so große Missetat wird ein Held nie mehr begehen.

982

Den Speer ließ er im Herzen stecken. So wild war Hagen noch vor keinem Mann der Welt geflüchtet. Da bemerkte Herr Siegfried seine schwere Verwundung.

983

Der Herr sprang außer sich von der Quelle weg. Aus seinem Herzen stak ein langer Speerschaft. Der Fürst hoffte, Bogen oder Schwert zu finden: Dann hätte Hagen seinem Dienst entsprechend büßen müssen.

984

Weil der Schwerverletzte das Schwert nicht finden konnte, hatte er nichts in der Hand als die Schildumrandung. Er schleifte sie von der Quelle weg und rannte gegen Hagen an. Da konnte ihm der Vasall König Gunthers nicht entrinnen.

985

Obwohl er tödlich verletzt war, schlug er so heftig zu, dass aus dem Schild zahlreiche Edelsteine herausbrachen; der Schild zerbrach vollständig. Der ausgezeichnete Fremde hätte sich gerne gerächt.

986

Hagen war durch seine Hand zu Boden gestreckt. Von der Kraft des Schlags hallte die Halbinsel wieder. Hätte er sein Schwert in Händen gehalten, es wäre Hagens Tod gewesen. So heftig war der Zorn des Verwundeten; das war ihm wahrlich ein Bedürfnis.

987

Aus seinem Gesicht war die Farbe gewichen: er konnte nicht mehr stehen. Die Kraft seines Körpers sollte völlig schwinden, denn er trug die Zeichen des Todes in heller Farbe. Später wurde er von vielen schönen Damen beweint.

988

Da stürzte Kriemhilds Mann in die Blumen. Man sah das Blut heftig aus seiner Wunde fließen. Da begann er diejenigen zu beschimpfen – das war ihm ein großes Bedürfnis – die durch ihre illoyale Verschwörung seinen Tod herbeibeschworen hatten.

989

Da sagte der tödlich Verwundete: „Wahrhaftig, ihr bösen Feiglinge, was nützen mir die Dienste, die ich euch geleistet habe? Ihr habt mich trotzdem erschlagen. Ich war euch immer loyal ergeben; dafür habe ich bezahlt. Leider habt ihr gegenüber euren Verwandten schlecht gehandelt.

990

Wer auch immer in Zukunft in eure Familie hineingeboren wird, wird davon Schuld tragen. Ihr habt eure Wut zu heftig an mir gerächt. Dieses Laster soll euch von den tugendhaften Kriegern trennen.“

991

Alle Ritter liefern dorthin, wo er erschlagen lag. Für die meisten von ihnen war es alles andere als ein Festtag. Er wurde von denen beklagt, die noch etwas Loyalität besaßen; das hatte der mutige und stattliche Ritter voll und ganz verdient.

992

Der König von Burgund beklagte seinen Tod. Da sagte der tödlich Verletzte: „Es ist überflüssig, dass der den Schaden beweint, der ihn verursacht hat. Der verdient heftigen Tadel: es wäre besser, es sein zu lassen.“

7.2.2 Nibelungenlied 2037-2042 (AB 194f.)

2037

Iring von Dänemark trug den Speer sehr hoch. Der ausgezeichnete, lobenswerte Krieger bedeckte sich mit dem Schild. Da stürmte er aus dem Saal auf Hagen zu; daraufhin erhob sich von den Kriegern ohrenbetäubender Lärm.

2038

Da schossen sie aus kräftiger Hand die Speere durch die soliden Schilde auf ihre hellen Gewänder, so dass sich die Speerstangen in große Höhen schraubten. Dann griffen die zwei tapferen Männer wild entschlossen zu den Schwertern.

2039

Der Mut des tapferen Hagen war sehr groß. Doch auch Iring schlug so sehr auf ihn ein, dass das ganze Haus davon widerhallte. Palas und Türme dröhnten von ihren Schlägen. Doch der Krieger konnte seinen Willen nicht durchsetzen.

2040

Iring ließ Hagen unverwundet stehen. Er wandte sich eilig dem Fiedler zu. Er dachte, er könnte ihn mit seinen heftigen Schlägen bezwingen: Volker, der schöne Krieger, wusste sich zu schützen.

2041

Da schlug der Fiedler [Volker] so heftig zu, dass sich von seiner Hand die Metallspange über den Schildesrand drehte. Von dem ließ er [Iring] also ab, es war ein gefährlicher Mann. Daraufhin griff er als nächsten Burgunden Gunther an.

2042

Jeder von beiden war stark genug für den Kampf. Wie viele Schläge sich Gunther und Iring auch gegenseitig versetzten, sie brachten dem anderen keine blutenden Wunden bei. Davor bewahrten sie ihre Rüstungen, die waren stark und gut.

7.2.3 Berthold von Regensburg. Wie viele sagen: Tu das Gute und lass das Schlechte (AB 195f.)

1-12

Und dadurch sollt ihr verstehen, wie groß die Klugheit des edlen David war, denn er nahm das beste und sah aufmerksam und mit der gebotenen Klugheit auf das Ende. Dadurch hatte er Erfolg. Er überlegte bei sich: „Wenn ich mich für die sieben Hungerjahre entscheide, gehen alle meine Leute durch meine Schuld zugrunde, obwohl sie doch unschuldig sind. Ich und meine Kinder würden auf irgendeine Weise am Leben bleiben, doch nur die Allerunschuldigsten wären verloren. Diese Buße will ich nicht. Herr, sei mir gnädig, ich bin der, der die Sünde begangen hat. Du sollst mich die Buße spüren lassen. Wenn ich nun die drei Monate hernehme, so habe ich sichere Burgen und gute Pferde, und kann mich vor meinen Feinden auf die sicheren Burgen retten, so dass ich die drei Monate vor meinen Feinden geschützt bleibe. Aber alle meine Leute würden mir zugrunde gehen, die an meiner Sünde völlig unschuldig sind. Gnade, Herr, auch diese Buße will ich nicht. Ich will um deinetwillen eine dreitägige Seuche auf mich nehmen. Dadurch triffst du den wahrhaft Schuldigen genauso rasch wie den Unschuldigen.“

13-21

Und damit fiel er auf die Erde und rief Gott flehentlich an, Erbarmen mit ihm zu haben und das unschuldige Volk nicht für seine Schuld büßen zu lassen. Und als Gott sich von seiner Klugheit und seiner Tugend überzeugt hatte, die darin bestand, dass er das Ende dieser Sache so vollständig berücksichtigt hatte, da ließ Gott von seinem Zorn ab, und was drei Tage hätte dauern sollen, das dauerte nur von sechs Uhr morgens bis zum Mittag. Daran erkannte Gott seine große Klugheit und Verständigkeit, denn er hatte willentlich das Ende berücksichtigt und war in der Lage, willentlich das Gute zu tun und das Schlechte zu unterlassen. Und genauso sollt ihr euch bemühen, auf das Ende zu achten. Bevor das geschieht, sollt ihr es für alle zusammen gedanklich umfassen, welches Ende es auch nehmen mag, wie es Herr David machte, und überlegt, welche die beste Buße ist. Da wir alle eine dieser drei Bußen auf uns nehmen müssen, nehmt die beste. Um des allmächtigen Gottes willen wendet euch der wahren Buße zu, die für zwei Dinge nützt, und erzielt wahre Reue, indem ihr euch der Technik bedient, die die Heiligen lehren, und kommt zur reinen Beichte und Buße gemäß Gottes Gnaden und nach eurem Stand. Dass das uns allen zuteil werde, dabei helfe uns der Vater, der Sohn und der Heilige Geist. Amen.

7.2.4 Berthold von Regensburg, XV. Von den fremden Sünden (AB 196f.)

1-5

Man begeht heute das Fest des guten St. Peter, um daran zu erinnern, wie er aus dem Kerker des Herrn Herodes aus den Ketten befreit wurde. Denn König Herodes hatte St. Peter gefangen, hätte ihn foltern wollen, hatte ihn streng bewachen lassen und hatte ihn fest mit eisernen Ketten angeschmiedet, und zusätzlich hatte er zu seiner Bewachung Ritter und Bewaffnete abgestellt, und er hatte zwei Wachen hintereinander aufgeboten, die ihn Tag und Nacht aufmerksam bewachten. Und der allmächtige Gott wollte nicht, dass er gefoltert wurde, und Gott sandte ihm einen Engel, der ihn aus der Gefangenschaft, aus den eisernen Banden, aus dem Kerker und an beiden Wachen vorbei führte, und er führte ihn in die Stadt Jerusalem. Und als er ihn zu einer Gasse gebracht hatte, da gab er sich zu erkennen – denn er bewegte sich wie in einem Traum oder in Ohnmacht – und als er ihn zu dieser Gasse in Jerusalem gebracht hatte, da gab er sich selbst zu erkennen und er hatte den Eindruck, dass er heimgekommen wäre. Und so wurde der gute St. Peter aus den Ketten und von den Wachen erlöst.

6-14

Und in gleicher Weise ist die Seele jedes Christen in einem Kerker eingeschlossen. Der Kerker ist der menschliche Körper: Darin befindet sich die Seele und leidet manche Trübsal durch die Sünden des Körpers. Und wenn ihr den Kerker verlassen dürft, so haben euch die Teufel zwei Heere entgegengestellt. Die eine Wache ist durch die eigene Sünde des Menschen bedingt, die zweite durch eine fremde Sünde. Wie der gute St. Peter: Der musste an zwei Wachen vorbei, denn jede von ihnen war mit vielen Rittern ausgestattet. Genauso muss jeder Mensch an zwei Wachen vorbei, wenn sich seine Seele vom Leib trennt. Die erste Wache stellen ihm die Teufel wegen seiner eignen Sünden entgegen und stellen ihn heftig wegen seiner eigenen Sünden auf die Probe, die der Mensch selbst begeht. Und finden sie bei ihm in mehr oder weniger großem Umfang Todsünden, für die er nicht gebüßt hat und die er nicht bereut hat: Die Teufel fangen an dieser Wache und führen euch in den Abgrund der Hölle, wo ihr niemals befreit werdet. Und wenn sie keine eigenen Sünden bei euch finden, lassen sie euch trotzdem nicht passieren. Sie suchen euch bei der anderen Wache wegen eurer fremden Sünde heim.

15-19

„Wie denn, Bruder Berthold, ein Mensch soll wegen fremder Sünden zur Hölle gefahren sein?“ Ja, viele tausend Menschen sind wegen fremder Sünden zur Hölle gefahren, und sie werden nie mehr befreit werden. Und das geschieht immer noch. Denn wenn man sie bei der ersten Sünde und bei der ersten Wache wegen der eigenen Sünde verhört, und wenn sie dann keine eigene Sünde auf sich geladen haben, dann verhört man sie bei der zweiten Wache wegen fremder Sünden. Findet man dann irgendwo irgendeine fremde Sünde bei ihnen, dann führt man sie bei der zweiten Wache dennoch wegen ihrer fremden Sünde zur Hölle wie die bei der ersten Wachen wegen ihrer eigenen Sünde Überführten.

20-24

Und es sind neunerlei fremde Sünden, wegen der die Leute in der zweiten Sünde und bei der zweiten Wache festgenommen werden. Wie viele eigene Sünden es gibt, kann man nicht vollständig aufzählen; denn wenn ich fünf Tage nichts anderes täte als zu sagen: „Das ist eine eigene Todsünde“, so könnte ich binnen fünf Tagen sicher nicht sagen, wie viele eigene Todsünden es wären. Tägliche Sünden gibt es noch mehr als Staub in der Sonne, und die brennen täglich im Fegefeuer. Die Todsünden muss man hier auf Erden büßen oder für immer in der Hölle brennen. Und es gibt neun fremde Sünden, und deswegen entführen die Teufel die Seele.

25-29

Die erste fremde Sünde besteht darin, dass jemand anstiftet, die Sünde zu begehen. Das betrifft all diejenigen, die keinen Raub begehen, jemanden ermorden oder verbrennen oder ihm andere unrechte Gewalt antun wollen. All das wollen sie nicht eigenhändig tun, und stiften andere Leuten an, es zu tun. Der, den sie angestiftet haben, fährt für seine eigene Sünde zur Hölle; der, der angestiftet hat, fährt für die fremde Sünde bei der zweiten Wache zur Hölle. Und worin die Sünde auch besteht, zu der einer seinen Knecht anstiftet, die heißen alle zusammen fremde Sünde. Wenn einer seinen Knecht dazu anstiftet, auf eines anderen Mannes Acker oder Wiese Früchte zu ernten oder in eines anderen Mannes Wald Holz zu schlagen oder was auch immer ihr Unrecht tun nennt, das sind alles fremde Sünden und sie fahren alle bei der zweiten Wache wegen ihrer fremden Sünden zur Hölle.

30-33

Die zweite Sünde, die auch zu den fremden Sünden gehört, heißt Sünde des Ratschlags. Wer zur Sünde rät, sei es dies oder jenes, zu welche Sünde auch immer jemand rät, ob er die Sünde selbst begeht oder nicht, wenn er jemandem folgendermaßen zur Sünde rät: „Auf zum Tanz oder zum Trunk oder zum Vergnügen oder ins Gasthaus oder zum Raub oder zum Totschlag oder zum Turnier!“ Pfui, Kupplerin, wie steht es um deinen Rat? Wozu zehn Teufel binnen zehn Jahren niemals raten könnten, dazu rätst du und betreibst deine Kuppelei in einer Woche.

34-38

Und die illoyalen Ratgeber, die den Herren Schlechtes gegen arme und reiche Leute zu tun raten, wie der treulose Achitofel und der treulose Chusi und der treulose Balaam, der mit seinen falschen Ratschlägen sicher vierundvierzigtausend Menschen ermordete. Und so geschieht es, dass noch heute ein treuloser Teufel seinen Rat erteilt, der ein Land oder zwei ins Unheil, ins Unglück und in großen Schaden stürzt durch seinen treulosen Rat, so dass dadurch alle Einwohner zugrunde gehen und viele Menschen durch den treulosen Rat ihr Leben verlieren. Und viele tausend Sünden werden aufgrund falscher Ratschläge und böser Ratgeber begangen. Denn wenn sich die Leute vom Guten entfernen, begehen sie viele Sünden, die sie sonst nie begangen hätten. Und die, die für ihre eigene Sünde bei der ersten Wache zur Hölle fahren. Die aber, die böse Ratschläge erteilen, die fahren bei der anderen Wache zur Hölle. Reue und Buße nehme ich stets davon aus.